Ein Blick auf die gesellschaftlichen Folgen des Ukraine-Krieges

Eine Zwischenbilanz mit Staatssekretär Alexander Fischer und Traumatherapeutin Prof. Meryam Schouler-Ocak

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Foto: VBKI

Es ist die größte Fluchtbewegung in Europa seit dem 2. Weltkrieg: allein in Deutschland sind über 600.000 Menschen auf der Flucht aus den ukrainischen Kriegsgebieten angekommen, fast 60.000 davon in Berlin. Gemeinsam mit Staatssekretär Alexander Fischer (Die Linke) und der Traumatherapeutin Prof. Meryam Schouler-Ocak haben wir eine Zwischenbilanz gezogen.

In der von VBKI-Geschäftsführerin Claudia Große-Leege moderierten Veranstaltung ging es zunächst um eine Bewertung des aktuellen Krisenmanagements. Nach Meinung des Staatssekretärs, selbst Mitglied des Krisenstabs des Senats, haben die staatlichen Stellen gerade im Vergleich zur Flüchtlingskrise der Jahre 2015/2016 dazugelernt. „Natürlich hat das Zusammenwirken der staatlichen Stellen hat in der Anfangsphase geruckelt. Das will das nicht verharmlosen”, sagte der Staatssekretär für Arbeit. Kurz nach dem russischen Überfall auf die Ukraine seien täglich bis zu 10.000 Flüchtlinge am Berliner Hauptbahnhof angekommen. In dieser Ausnahmesituation seien trotzdem rasch Strukturen geschaffen und die Zusammenarbeit der staatlichen Stellen und der freiwilligen Helferinnen und Helfer koordiniert.
 
Anschließend berichtete Prof. Dr. med. Meryam Schouler-Ocak, Leitende Oberärztin der Psychiatrischen Institutsambulanz in der Psychiatrischen Universitätsklinik der Charité im St. Hedwig-Krankenhaus, über ihre Spezial-Sprechstunden für Geflüchtete. Gemeinsam mit Kollegen bietet sie nicht nur psychiatrische, sondern auch psychotherapeutische Hilfe, Ergotherapie und weitere Dienste von Sozialarbeitern an. Die meisten Besucher der Sprechstunde seien sehr dankbar in Deutschland sein zu können, jedoch seien viele von ihnen traumatisiert: „Traumata entstehen nicht nur durch das aktive Erleben von Kriegshandlungen, sondern auch durch die Fluchterfahrungen oder durch Nachrichten von Gräueltaten und vieles mehr.“
 
Um sowohl Betroffenen zu helfen, als auch den vielen Helfenden, hat die Professorin gemeinsam mit Experten aus aller Welt einen Flyer in 10 Sprachen mit den wichtigsten Dos and Don‘ts in der Zusammenarbeit mit Traumatisierten erstellt. Für Geflüchtete sei es wichtig, „im Hier und Jetzt“ orientiert zu werden, um Retraumatisierungen zu vermeiden. „Sie brauchen Normalität, Absicherung, das Gefühl, Boden unter den Füßen zu haben und Tagesstruktur“, so Schouler-Ocak. Außerdem sei die Integration in Sozial- und Erwerbsleben die beste und schnellste Möglichkeit, Menschen wieder „gesund zu bekommen“. Dies sei aber schwierig in den Sammelunterkünften ohne Rückzugsräume. Eine Lösung könnte die konsequente Verteilung der Flüchtlinge über ganz Deutschland nach dem Königsteiner Schlüssel sein.
 
Alexander Fischer berichtete jedoch, dass viele Geflüchtete „große Vorbehalte“ gegen die Verteilung haben. Es wollten viel mehr Flüchtlinge in Berlin bleiben als der Königsteiner Schlüssel vorsieht. Hier bestünde ein Zielkonflikt, denn Berlin habe die Verantwortung, sich adäquat um die in Berlin bleibenden Geflüchteten zu kümmern, sie zu integrieren und ihnen zum Beispiel auf der Suche nach einer langfristigen Unterkunft zu helfen. In Berlin bekanntermaßen kein leichtes Unterfangen. Sein Fazit daher: „Wenn man will, dass man die Menschen angemessen versorgt werden, kommt man an dem Schlüssel nicht vorbei.“ Es sollte aber die Möglichkeiten zur Überquotierung als Ergänzung zum Schlüssel geben im Falle von familiären Bezügen oder einem Arbeitsvertrag.
 
Meinungsverschiedenheiten wurden bei der Integration von geflüchteten Kindern deutlich. Während der Staatssekretär für Willkommensklassen als Vorbereitung zum Regelschulbetrieb plädierte, sprach sich die Professorin für eine direkte Integration in die Regelklassen aus. Ihrer Ansicht nach würden Willkommensklassen die Integration nicht erleichtern, sondern erschweren, da die Flüchtlingskinder nur unter sich wären, ihre Heimatsprache sprechen würden und Retraumatisierungen durch den Austausch über ihre Erfahrungen wahrscheinlich wären. Bei einer sofortigen Einschulung in Regelklassen würden die Kinder dagegen leicht Deutsch lernen und integriert werden.