9-Euro-Ticket – wie könnte es weitergehen?

Ein Konzept aus dem VBKI-Ausschuss Finanzen & Nachhaltigkeit

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Foto: VBKI

Es war der Publikumshit des Sommers 2022. Neben den neun Millionen Menschen, die schon vor dem 1. Juni zugeschlagen hatten, kauften weitere 21 Millionen Personen das 9-Euro-Ticket während der drei Monate seiner Gültigkeit. Laut dem Verband Deutscher Verkehrsunternehmen waren bis Ende Juni 48 Prozent der erwachsenen Deutschen im Besitz des 9-Euro-Tickets. Das sind beeindruckende Zahlen, die eine Diskussion über eine Weiterführung entfachten – selbst im anfangs skeptischen Bundesverkehrsministerium.

Bei näherer Betrachtung fällt die Bilanz gemischter aus: Die Kosten des hochsubventionierten 9-Euro-Tickets von etwa 3,25 Milliarden Euro zwischen Juni und August dürften auf Dauer für die öffentlichen Haushalte beziehungsweise den Steuerzahler nicht zu stemmen sein, eine Verlagerung der Verkehre – darauf deuten erste Auswertungen hin – hat allenfalls in überschaubarem Maß stattgefunden. Nur drei Prozent der geplanten Autofahrten wurden mithilfe des rabattierten Tickets durch den ÖPNV ersetzt. Fast 30 Prozent der Fahrten wären ohne das Ticket nicht getätigt worden. Ebenfalls problematisch: Vom 9-Euro-Ticket profitieren vor allem Menschen in städtischen Großräumen mit guter Anbindung. Es stellt sich die Frage nach einem fairen Ausgleich für jene Bevölkerungsgruppen in ländlichen Regionen mit eingeschränktem Zugang zum Nahverkehr.
 
Und wir fragen uns: Wie viele zusätzliche Fahrgäste vertragen Busse und Bahnen, die bereits vor der Pandemie aus allen Nähten platzten – jedenfalls in der Rush Hour? Ein Blick nach Wien, wo ein 365-Euro-Jahresticket bereits im Mai 2012 eingeführt wurde, zeigt: Ohne Investitionen in die Infrastruktur wird auch ein unschlagbar günstiges Ticket langfristig nicht den gewünschten Erfolg zeitigen. Die großangelegte Rabattaktion hat uns allen die Fehler der Verkehrspolitik der letzten Jahrzehnte vor Augen geführt. Sie birgt die Aufforderung an die Politik, energisch und rasch zu handeln. Dies gilt ebenso für den Ausbau des Fernverkehrs. Die Förderung von attraktiven ÖPNV-Angeboten würde dem Bund erlauben, neben den verkehrspolitischen zwei weitere Ziele verfolgen: Der ÖPNV ist sozial gerecht und zugleich klimaschützend. Mit dieser Erkenntnis und dem entsprechenden politischen Willen, sind auch Möglichkeiten zur Querfinanzierung eines Mobilitätstickets denkbar.
 
Wie könnte eine solche Querfinanzierung aussehen? Die Ausgaben für den bundesweiten ÖPNV-Verkehr belaufen sich derzeit auf etwa 17,5 Milliarden Euro. Die deutschen Nahverkehrsunternehmen nahmen im Jahr 2020 laut einer Verbandserhebung des VDV durch den Verkauf von Fahrkarten etwa 10,3 Milliarden Euro ein. Weitere 3 Milliarden Euro stammen aus Ausgleichzahlungen, etwa für den Schülerverkehr und die Freifahrten für Schwerbehinderte. Somit trägt der ÖPNV in Deutschland aus eigenen Mitteln etwa 75 Prozent zur Deckung seiner Kosten bei. Diese Erlöse sind mit deutlich günstigeren Tickets nicht zu realisieren. Die Kunst besteht darin, einen ausbalancierten Preis zu finden. Einen Preis, der einerseits günstig genug ist, um den ÖPNV im Vergleich zu anderen Verkehrsmitteln attraktiver zu machen. Der aber andererseits in ausreichendem Maße zur Finanzierung des Angebots beiträgt.
 
Wo könnte dieser Preis liegen? Die Summe, die zuletzt am häufigsten genannt wurde und den die Stadt Wien seit Mai 2012 erhebt, beträgt 365 Euro pro Jahr. Die Botschaft ist klar: Ein Euro pro Tag für den ÖPNV. Er liegt damit unwesentlich höher als die 29 Euro für ein Klimaticket, für das sich – laut einer Umfrage der Uni Kassel – 56 Prozent der Befragten gewinnen lassen würden.
 
Die vergangenen drei Monate zeigen aber auch, dass das 9-Euro-Ticket von deutlich mehr Menschen genutzt wurde als den üblichen 9 Millionen ÖPNV-Nutzern – nämlich von 30 Millionen. Wir gehen davon aus, dass ein 365-Euro-Jahresticket angesichts höherer individueller Kosten eine geringere Nachfrage auslösen würde. Wir rechnen mit einem Nachfragepotenzial von rund 20 Millionen Nutzern. Damit würde sich der Gesamterlös pro Jahr auf etwa 7,3 Milliarden Euro belaufen – ein Verlust um etwa 3 Milliarden im Vergleich zum Status quo. Insgesamt müsste der ÖPNV staatlicherseits mit 7,2 Milliarden Euro bezuschusst werden.
 
Wie ließe sich dieses Defizit kompensieren? Aus unserer Sicht könnte ein Weg darin bestehen, politisch weniger erwünschte Verkehrsträger stärker zur Kasse zu bitten. Insbesondere im Bereich Parkraumbewirtschaftung könnte eine zentrale Stellschraube liegen. Uta Bauer, Mobilitätsforscherin beim Deutschen Institut für Urbanistik (difu), stellte jüngst fest, dass parkende Auto die ineffizienteste Nutzung öffentlicher Straßenräume sei, schließlich stehe es durchschnittlich 23 Stunden am Tag ungenutzt herum.
 
Noch zahlt man in Berlin für eine Jahresvignette als Mindestbetrag 10,20 Euro – ein Schnäppchen. Zum Vergleich: In Stockholm sind es 827, in Oslo 890 Euro. Weert Canzler, Mobilitätsforscher am Wissenschaftszentrum Berlin, schlägt vor, den Preis fürs Parken mit dem einer Monatskarte für den ÖPNV gleichzusetzen. Bei den bisherigen Kosten für ein BVG-Monatsticket in Berlin wären das momentan 86 Euro, jährlich also 1032 Euro. Unser Vorschlag von 365 Euro pro Auto und Jahr bleibt deutlich darunter.
 
Dennoch ließen sich auf dieser Basis bei 59 Millionen zugelassenen Kraftfahrzeuge Einnahmen in Höhe von 21,5 Milliarden Euro erzielen. Diese Summe reicht nicht nur aus, um das oben beschriebene Defizit (7,2 Milliarden Euro) bei den Verkaufserlösen des ÖPNVs zu schließen. Es stünden auch Mittel zur Verfügung, um den dringend erforderten Ausbau der entsprechenden Infrastruktur voranzutreiben. Langfristig könnte diese Einnahmequelle aus dazu dienen, im Bereich Fernverkehr ähnlich attraktive Angebote zu schnüren wie im Nahverkehr.
 
Beispielsweise, indem neben einem 365-Euro-Ticket für den Nahverkehr ein Ticket angeboten wird, das Nah- und Fernverkehr inkludiert. Wo könnte der Preis für ein solches Ticket liegen? Klar ist: Wer deutlich mehr Menschen in Züge und Bahnen locken möchte – und das ist das erklärte Ziel nicht erst der amtierenden Bundesregierung – , muss sich von den derzeit gültigen Tarifen der Deutschen Bahn verabschieden. Der Kundenkreis der BahnCard 100 (4.144 Euro in der zweiten Klasse, 7.010 Euro in der ersten Klasse) ist auf etwa 50.000 Personen begrenzt, die Preissetzung ist nicht massentauglich. Interessanter wird es beim Blick auf die BahnCard 50: Deren rund 1,2 Millionen Besitzer beschreiben aber in etwa das Ziel, das uns realisierbar erscheint – beispielsweise wenn man folgende Preisgestaltung zugrunde legt: 1095 Euro (3 x 365 Euro) für die zweite Klasse und 1.460 Euro (4 x 365 Euro) für die erste Klasse.
 
Unabhängig von aller berechtigten Kritik im Detail werten wir das 9-Euro-Ticket als erfolgreichen Versuch, frischen Wind in die verkrusteten Strukturen und Denkmuster des deutschen Verkehrswesens zu bringen. Das Experiment lädt dazu ein, mutig weiterzudenken und neue Wege im Zieldreieck von attraktiven Verkehrslösungen, effektivem Klimaschutz und Finanzierbarkeit zu beschreiten. Es ist vor allem aber ein klarer Auftrag, den lange vernachlässigten Personenfern- und Nahverkehr zu revitalisieren.
 
Über die Autoren:
Kai Drabe ist Vorsitzender des Ausschusses Finanzen und Nachhaltigkeit im Verein Berliner Kaufleute und Industrieller (VBKI) und Inhaber Kai Drabe Family Office.
Michael Knoll ist Leiter Grundsatzfragen beim Verein Berliner Kaufleute und Industrieller (VBKI).
 
Der Artikel ist im Tagesspiegel am 23. August 2022 als Gastbeitrag erschienen.